Ein Fallbeispiel:
Üben hat nichts gebracht

Ilona Löffler und Susanne Wahl

Das Leben das zehnjährigen Sven spielt sich am Wochenende ohne Probleme ab. Am Samstag geht er zuerst mit seinem Vater auf den Markt, nachmittags trifft er sich mit seinem Freund und sie unternehmen etwas oder sie setzen sich vor seinen Computer. Computerspiele machen ihm großen Spaß.

Sein Leben unter der Woche sieht allerdings anders aus. Sven hat große Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben.

war ein aufgeweckter, intelligenter Junge mit vielen Interessen. Er lachte gern und wurde wegen seiner freundlichen Art gemocht. Die Kindergärtnerin lobte ihn für sein soziales Verhalten den Kleineren gegenüber. Noch vor Schuleintritt lernte er von seinem Vater das Schwimmen und Fahrradfahren.

Dem Schuleintritt sahen die Eltern gelassen entgegen. Sven freute sich darauf, endlich richtig lesen und schreiben zu lernen. Denn er hatte seiner Mutter schon früher hin und wieder Kritzelbriefe „geschrieben“, die er unterschrieben hatte, denn seinen Namen konnte er schon. Er hatte ihr die Briefe vor dem Abendessen „vorgelesen“, weil sie in „Geheimschrift“ geschrieben waren, die außer ihm natürlich keiner kennen durfte.

Im Rechnen hatte er keine Probleme, von einigen Zahlendrehern abgesehen, was jedoch am Anfang normal ist. Das Lesen und Schreiben bereitete ihm sichtlich Schwierigkeiten. Die Eltern hatten das nicht im Traum erwartet. Er brauchte sehr lange, um gelernte Buchstaben wiederzuerkennen, selbst wenn er sie gerade noch mühsam entziffert hatte.

machten sich die Eltern ernsthaft Sorgen. Die Lehrerin zerstreute ihre Sorgen: „Das gibt sich noch. Das wächst sich aus“. Sie gab der Mutter zusätzliche Übungen mit nach Hause.

Die Mutter kaufte außerdem Kinderbücher, die Sven sich aussuchen durfte, auch ein Buch über Fische, weil er wissen wollte, warum Fische Wasserpflanzen brauchen. Besonders interessierte ihn, ob Fische auch schlafen gehen. Sie verabredeten, dass sie sich vorlesen wollten, sie einen größeren Abschnitt und er ein kleines Stück. Die Übungen wurden für beide zur Qual.

 

 

konnte Sven Silben nicht zu Wörtern zusammenschleifen, mühsam erlas er Buchstabe für Buchstabe, stolperte noch über einzelne Buchstaben, setzte beim Folgebuchstaben neu an und konnte beide lautlich nicht verschmelzen. Manchmal las er auch rückwärts. Von der motivierenden Lesefreude, die man laut Pädagogen bei Kindern wecken müsse, konnte überhaupt keine Rede sein. Was er da gelesen hatte, konnte er nicht sagen. Die Frage nach dem Sinn des Gelesenen fürchtete er besonders. Sie machte ihn hilflos und wütend.

Mit dem Schreiben ging es nicht besser. Am Ende erledigte die Mutter die Hausaufgaben für ihn, damit er sie für die Schule abschreiben konnte. Fehlerloses Abschreiben kam nur nach mehrmaligen Versuchen zustande.

Sie hatten abgesprochen, für das zusätzliche Üben eine Lernkartei anzulegen. Vorne das falsch geschriebene Wort und hinten das nach vielem Üben richtig geschriebene, das er nun konnte. In der Schule schrieb er es wieder falsch. Manchmal brach seine Mutter die Übungen entnervt ab. Wenn sie ihn anschrie: „Ich habe es dir doch tausend Mal erklärt. Kapierst du es denn nie?!“, tat es ihr sofort wieder leid.

Nach der Schule zog er sich sofort in sein Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und ließ keinen an sich heran. Der früher offene und fröhliche Junge weinte fast täglich. Beim gemeinsamen Abendessen konnten sie einmal herauslocken, was passiert war. Er hatte, wie andere auch, vor der Klasse vorlesen sollen. Er hatte gestottert und nichts hinbekommen. Die anderen hatten sich gelangweilt, waren unruhig geworden. Und als er gehofft hatte, dass die endlose Qual nun ihr Ende habe, hatte die Lehrerin ihn aufgemuntert: „Versuch es noch einmal, jetzt kannst du es sicher“. Aber es war wie vorher und alle, alle hatten gelacht.

Ein anderes Mal gestand er den Eltern, dass seine Lehrerin ihn getadelt hatte, da er seine Hausaufgaben vergessen hatte. Aber er hatte sie in Wahrheit gar nicht vergessen. Er hatte das nur so gesagt. Er hatte die ganze Nacht daran denken müssen, dass er es nicht gekonnt hatte. Er fand es ehrenvoller zu behaupten, sie vergessen zu haben. Es sollte nicht schon wieder klassenöffentlich werden, dass er nicht richtig schreiben konnte.

bei der Mutter immer häufiger über sein Verhalten im Unterricht. Trotz mehrerer Ermahnungen würde er nicht ins Lesebuch, sondern zum Fenster hinschauen, dass er abwesend wirke und sich nicht genug konzentriere.
Im Jahresendzeugnis stand, dass Sven noch Schwierigkeiten beim Lesen habe, da er sich Wortbilder nicht merken würde.

war wegen der Probleme im Lesen und Schreiben unumgänglich. Die Lehrerin riet dringend dazu und die Eltern versprachen sich dadurch eine Erleichterung für ihren Jungen. Sven wollte nicht von seinem Freund in der Klasse weg, der in die dritte Klasse kam und er sollte zu den „Zwergen“ gehen, auch sei er doch nicht „dumm“.

 

 

Das Lesen hat sich leicht gebessert, aber seine Lesefähigkeit entspricht in Wahrheit dem Stand eines Zweitklässlers. Er liest noch fehlerhaft und z.T. sinnentstellend. Seine Stimme klingt hohl und er liest ohne Betonung, der Lesefluss ist holprig und das Tempo sehr langsam. Längere Wörter versucht er immer noch zu erraten. Damit er im Rechnen nicht absackt, bekommt er anstelle der Textaufgaben andere Rechenaufgaben oder die Lehrerin liest ihm den Text vor. Inzwischen wird er auch von den „Zwergen“ gehänselt. Wenn er vor der Klasse laut vorlesen soll, kichern sie. Wenn die Lehrerin nur seinen Namen aufruft, bekommt er bereits ein flaues Gefühl im Magen und seine Hände zittern, so dass ihm die Buchstaben vor den Augen verschwimmen.

Im Schreiben ist es noch schlimmer. Früher kam er hoffnungsvoll aus der Schule und versicherte seiner Mutter, dass das Diktat dieses Mal besser ausfallen würde als die vorherigen. Er war dann fürchterlich enttäuscht und traurig über die vielen Fehler. Seiner Mutter ging es übrigens nicht besser. Sie hatten so intensiv für das Diktat geübt, dass sie zu Hause mit ihm bangte, als schriebe sie mit und würde selbst geprüft.

Heute erwartet er schon vorher den Misserfolg und erledigt in dieser Stimmung seine Deutscharbeiten. Note 6, 5 oder auch einmal eine schlechte 4 im Diktat. Unter seinen Aufsätzen steht, dass er eine bessere Note erhalten hätte, wenn er nicht so viele Rechtschreibfehler machen würde. Aber er will ja nicht so viele Rechtschreibfehler machen, nur wie?

Im Gespräch mit den Eltern spricht die Lehrerin davon, dass Sven große „Konzentrationsprobleme“ habe.

Nach der Schule verschwindet Sven in sein Zimmer, legt sich aufs Bett und hört Musik, um erst mal wieder „runterzukommen“; Mittagessen, dann wieder Hausaufgaben und Üben. Das gemeinsame Üben mit der Mutter ist für beide zum „Horrortrip“ geworden. Wenn er heute ein Wort richtig schreibt, schreibt er das gleiche Wort morgen wieder falsch. Daran hat sich nichts geändert. Er kann sich das Wortbild einfach nicht merken. Das Üben ist bei jedem zweiten Mal konfliktgeladen und durch Tränen und Verweigerungshaltungen des Jungen belastet. Viel gutes Zureden und Androhen von Fernsehverbot überzeugen dann wieder zum Weitermachen. Er setzt sich selbst so unter Druck, dass ihm in der Übungssituation die Bleistifte abbrechen. Die Mutter leidet mit, „wenn man den Jungen schreiben sieht, es ist einfach Schwerstarbeit; hinterher hat er völlig abgebaut“.

Auch seelisch muss die Mutter Sven aufbauen. Vor jeder Deutscharbeit redet sie ihm zu und versucht, seine Zweifel an sich („ich lerne das nie“, „ich bin dumm“) wieder umzubiegen: „Du bist doch nicht dumm. Du bist doch sonst ein guter Schüler“.

Aber auch die Schulfächer, in denen Sven keine Probleme hat, sind für ihn zu „Stress“-Fächern geworden, die ihn über Gebühr belasten. Gute Leistungen in diesen Fächern müssen her. Sie sollen allen Spott und Hänseleien und das Gefühl, nichts wert zu sein, wettmachen. Da ist eine Drei nicht genug. Für sein verletztes Selbstwertgefühl ist eine Drei unter der Rechenarbeit eine Demütigung und er will den Eltern das Heft nicht zeigen, schreit und wirft es auf den Boden.

Der Umgang mit dem Sohn ist für die Eltern zur permanenten Aufgabe geworden, ihn immer wieder aufzubauen. Täglich kämpfen sie darum zu verhindern, dass der Selbstzweifel seine ganze Person ergreift. Sie hatten ihn deshalb zum Kinder-Yoga angemeldet, um über die Entwicklung von Körperbewusstsein seine Minderwertigkeitsgefühle zu mindern und seit einem Jahr ist er Leistungsschwimmer und hat dort neue Freunde gefunden („Na, siehst du, alles wird gut!“). Nur, was soll gut werden? Am nächsten Morgen muss er wieder in die Schule und wird mit der Nase darauf gestoßen, dass er nicht wie die anderen lesen und schreiben kann.

Seit der zweiten Klasse hatte Sven mitbekommen, dass er für seine Eltern ein „Problem“ war. Er wusste zwar nicht, worum es im Einzelnen ging, aber dass er der Anlass ihrer Beunruhigung war, hatte er mitbekommen. Jetzt in der vierten Klasse verdichten sich ihre Sorgen in der Frage, was für den Sohn die richtige weiterführende Schule wäre und wie sie entscheiden sollen. Seit dem Elternsprechtag vor zwei Monaten leidet der Junge unter Bauchschmerzen. Die Lehrerin hatte ihnen gesagt, er hätte aufs Gymnasium gehen können, wenn nicht seine Probleme im Lesen und Schreiben wären. Seine Schwimmfreunde werden am Ende des Schuljahres aufs Gymnasium gehen. Sie haben ihn schon gefragt, auf welche Schule er gehen wird.

Sven ist ein Kind, dessen massive Lese-/Schreibprobleme von den Eltern und der Lehrerin recht früh bemerkt wurden. Das ist leider nicht immer der Fall.

Eltern und Schule haben darauf mit vermehrtem Üben reagiert. Allerdings wurde zu lange abgewartet, auch als es offensichtlich war, dass alle schulischen und häuslichen Bemühungen keine Fortschritte brachten.

Wenn man bedenkt, dass die Grundlagen im Lesen und Schreiben in den beiden ersten Klassen gelegt werden, wäre es nötig gewesen, spätestens am Ende der 2. Klasse eine detaillierte Entwicklungsanalyse des Lernprozesses anzufertigen. Es hätte geklärt werden müssen, wo genau Sven seine Probleme hatte und wie sie beschaffen sind.

Wenn ein Kind

  • deutliche Probleme beim Erlernen des Lesens oder des Schreibens zeigt,
  • die länger als drei Monate andauern
  • und zusätzliches Üben keine stabilen Fortschritte bringt

 

dann sollten Eltern die Lernprobleme durch eine Facheinrichtung untersuchen lassen.

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