Ein Fallbeispiel:
Nur ein paar Rechtschreibfehler?

Ilona Löffler und Susanne Wahl

Die 9-jährige Julia macht keine Probleme. Sie ist still und stört im Unterricht nicht. Zwar unterlaufen ihr ständig kleinere oder größere Rechtschreibfehler, aber sonst ist sie ein liebes Mädchen. Leider ist es noch so, dass Mädchen drei Mal weniger auf eine Lese-Rechtschreibschwäche untersucht werden als Jungen, weil sie sonst keine Probleme bereiten.

Oft werden bei Mädchen Lese-Rechtschreibschwächen nicht rechtzeitig erkannt. Sie fallen im Unterricht nicht durch störendes Verhalten auf, weil sie ihre Probleme in der Regel nach innen kehren. Sie führen ihre Hefte ordentlich, haben eine saubere Schrift und fügen sich, wenn sie zu Hause zusätzlich üben müssen.

Auch die 9-jährige Julia bereitet ihrer Lehrerin und zu Hause keine Probleme. Sie ist still, folgsam und stört keinen. Nur ihre Rechtschreibfehler. Heute schreibt sie Wörter falsch, die sie gestern richtig geschrieben hat. Vielleicht konzentriert sie sich nicht immer ausreichend. Manchmal lässt sie ganze Silben aus. Vielleicht hat sie mal wieder nicht richtig zugehört. Diese und andere Überlegungen hatten sich ihre Eltern gemacht.

In den ersten beiden Klassen kam Julia in der Schule ganz gut zurecht. In der dritten Klasse haben die schulischen Leistungen des Mädchens jedoch stark abgenommen. Sie ist noch stiller geworden und ihr Selbstwertgefühl leidet. Selbst von ihren beiden festen Freundinnen zieht sie sich immer mehr zurück und will nicht einmal mehr auf die Geburtstagsfeier ihrer Freundin gehen. Mädchen wie Julia können eine Rechtschreibschwäche haben, die Eltern und Lehrern nicht auffällt.

„Eigentlich habe ich sie schon immer beim Schreiben unterstützen müssen. Aber mit etwas Unterstützung funktionierte das Lernen eigentlich recht gut“, erinnert sich die Mutter an den Schulanfang. „Ab der zweiten Klasse haben wir im Grunde täglich Wörter und kleine Diktate geübt“. Obwohl sie fleißig lernte und ab der 3. Klasse fast den ganzen Nachmittag mit Hausaufgaben verbrachte, nahmen ihre schulischen Leistungen in Deutsch stetig ab. „In den Klassenarbeiten war alles weg. Dabei habe ich es zu Hause noch gekonnt“, klagt Julia. Im Gegensatz zu ihren Mitschülern fruchtet das Üben bei ihr nicht so gut. „Schwere Wörter schreibt sie auch schon mal richtig, aber leichte kriegt sie dann nicht hin“, beobachtet die Mutter: „Ich hoffte immer, dass sich der Schalter im Gehirn bei ihr umlegt“.

Dann kam die Zeit, dass die Mutter immer öfter bei Julias Schulfreundin nachfragen musste, welche Hausaufgaben zu erledigen seien, da Julia lieber sagte, dass sie nichts aufhabe. Den nachmittäglichen Übungen mit der Mutter widersetzte sie sich jedoch nicht, „aber irgendwie wirkte sie auf ihre Art lustlos, irgendwie unbeteiligt, als ginge sie das alles nichts an.“

Auf die Lehrerin wirkte das stille Mädchen – abgesehen von ihrer mangelnden Beteiligung im Unterricht – unauffällig. Sie hatte ganz andere Problemkinder in der Klasse.

Julia litt im tiefsten Inneren unter den täglichen Misserfolgen. In ihr hatte sich das Gefühl breit gemacht, mit den Klassenkameradinnen und Klassenkameraden nicht mithalten zu können. „Mutti schimpft immer öfter, weil ich wieder Fehler gemacht habe und mir die Wörter nicht merken kann. Dabei habe ich mich so angestrengt, mir die Wörter fest zu merken. Abends im Bett konnte ich oft nicht einschlafen, weil ich an den nächsten Schultag denken musste“, erzählte sie uns.

Julias Mutter macht sich heute Vorwürfe, dass sie so oft mit ihrer Tochter geschimpft hatte: „Warum merkst du dir nicht, wie man das Wort schreibt. Bist du denn dumm?“ Zurückschauend tut es ihr leid: „Wenn wir schon früher den Grund für Julias Lernproblem gewusst hätten, wäre ich nicht so ungerecht gewesen. Viel Kummer und Leid wäre uns allen erspart geblieben.“

Julia hatte immer mehr an Selbstvertrauen, Lern- und Lebensfreude verloren. Diese Entwicklung mit ansehen zu müssen und nicht richtig helfen zu können, ist für Eltern ebenso schlimm.

Seit eine genaue Untersuchung bei Julia die speziellen Ursachen ihrer Rechtschreibfehler festgestellt hat, entspannt sich die Situation in der Familie deutlich. Julia macht nun eine gezielte Therapie, die ihre Schreibfähigkeiten auf anderen Wegen aufbaut als in der Schule und die ihr verletztes Selbstwertgefühl wieder heilt.

In vertrauten Gesprächen mit den Eltern und der Lehrerin haben wir besprochen, wie sie neben unserer Förderung Julia zu Hause und im Unterricht am besten unterstützen können. Seitdem haben sich ihre schulischen Leistungen deutlich verbessert und ihre Lern- und Lebensfreude ist zurückgekehrt. Im Moment freut sie sich darauf, nächste Woche die Geburtstagsfeier ihrer Freundin zu besuchen.

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